Anordnung eines paritätischen Wechselmodelles gegen den Willen eines
Kindes
Anmerkung zu OLG Brandenburg (2. Senat für Familiensachen), Beschluss
vom 16.09.2021 10 UF 34/21, BeckRS 2021, 31315
Die Anordnung eines paritätischen Wechselmodelle gegen den Willen eines
Elternteiles gehört zu den extrem umstrittenen Fragen in Praxis, Rechtsprechung
und Literatur.
Das OLG Brandenburg hatte sich nun nicht nur mit eben dieser Frage, sondern
auch noch damit zu beschäftigen, ob ein Wechselmodell von Seiten des
Gerichtes angeordnet werden kann, wenn das Kind dieses Wechselmodell nicht
will. Die Beachtlichkeit dieses Willens wurde vom antragstellenden Vater aber
abgelehnt mit der Vermutung, die Äußerung entspreche nicht dem
tatsächlichen Willen des Kindes, sondern sei auf Beeinflussung seitens
der Kindesmutter zurückzuführen, ein Phänomen, welchem man
standardmäßig in kindschaftsrechtlichen Verfahren begegnet. Der
Elternteil, dessen Begehr durch den im Verfahren geäußerten Willen
nicht entsprochen wird, führt zwangsläufig diese Äußerung
auf eine Beeinflussung zurück.
Die Eltern stritten hier um die Ausgestaltung des Umgangsrechtes mit ihrer
14-jährigen Tochter. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 1.2.2017,
NZFam 2017, 206, eine gerichtliche Umgangsregelung, die im Ergebnis zu einer
gleichmäßigen Betreuung durch beide Elternteile (paritätisches
Wechselmodell) führt, ausdrücklich gebilligt. Damit ist immer noch
nicht ausgeschlossen, dass es sich bei der Anordnung einer gleichmäßigen
Betreuung auch um eine sorgerechtsrechtliche Regelung handelt. Im Hinblick
darauf, dass im Rahmen der einstweiligen Anordnung lediglich sorgerechtliche
Regelungen, aber nicht umgangsrechtliche Regelungen der Beschwerde unterliegen
( § 57 FamFG), ist hier eine Regelung durch den Gesetzgeber notwendig.
In dieser Entscheidung hat der BGH ebenfalls dargelegt, dass auch gegen den
Willen eines Elternteiles die Anordnung einer paritätischen Betreuung
möglich ist. Der Wille eines Elternteiles und das Kindeswohl müssten
nicht notwendig übereinstimmen und es liege nicht in der Entscheidungsbefugnis
eines Elternteils, ob eine dem Kindeswohl entsprechende gerichtliche Anordnung
ergehen könne. Demnach kommt es auch bei der Anordnung eines Wechselmodell
nur darauf an, ob eine Betreuung durch beide Eltern dem Kindeswohl im konkreten
Fall am besten entspricht.
Allerdings hat der BGH in dieser Entscheidung der Konsensfähigkeit der
Eltern weiterhin entscheidende Bedeutung beigemessen. Bei hoher Konfliktbelastung
der Eltern und fehlender Kommunikations-und Konsensfähigkeit komme die
Anordnung eines Wechselmodelles daher nicht in Betracht.
Die Ermittlung und Berücksichtigung des Kindeswillens ist verfassungsgemäßes
Recht der Kinder aus Art. 1 und 2 GG und wird durch Art. 12 der UN-Kinderrechtekonvention
verlangt.
Das Kind darf nicht zum Objekt einer familiengerichtlichen Entscheidung werden,
sondern es ist zu beteiligen und seine Meinung angemessen zu berücksichtigen.
Das macht das Kind nicht zum Entscheider einer familiengerichtlichen Regelung,
das darf zur Vermeidung einer Vertiefung der Konfliktsituation nicht geschehen
und muss gegenüber dem Kind angemessen kommuniziert werden.
Dem geäußerten Willen eines Kindes kommt mit wachsendem Alter immer
mehr Bedeutung zu. Ist das Kind wie hier 14 Jahre alt, dementsprechend am
Beginn oder in der Pubertät, kommt eine gerichtliche Entscheidung gegen
den erklärten Willen eines Kindes kaum noch in Betracht. Dabei ist jede
Äußerung des Kindes unter der Prämisse, dass jede Äußerung
und jedes Verhalten eines Menschen durch äußere Faktoren, nahestehende
Personen oder Erwartungen beeinflusst ist, zu werten.
Ob die Äußerung eines größeren Kindes im familiengerichtlichen
Verfahren Ausdruck eines stabilen Willens ist, kann insbesondere danach beurteilt
werden, ob dieser Willen nachvollziehbar und begründet erklärt wird
und in verschiedenen Situationen über einen bestimmten Zeitraum und gegenüber
verschiedenen Personen in dieser Form geäußert wird. Liegt eine
Willensänderung vor, dann kommt der Begründung dieser Willensänderung
entscheidende Bedeutung zu. Diese Kriterien hat das OLG in der Entscheidung
sehr gründlich angewandt. Besondere Bedeutung kommt der Tatsache zu,
dass das Kind auch gegenüber dem antragstellenden Vater seine Meinung
geäußert hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Willen durch
Erwägungen des Kindes beeinflusst ist, die Beibehaltung einer für
es akzeptablen Situation der Änderung in eine unbekannte Situation vorzuziehen
oder schlicht einen Schlusspunkt unter die Diskussion zu setzen, die für
es mit wiederholten Anhörungen durch Gerichte, Verfahrensbeiständin
und Sachverständige verbunden war. Aber auch ein so gebildeter Wille
ist beachtlich und das hinwegsetzen über diesen Willen mit einer Störung
des Gefühls der Selbstwirksamkeit verbunden.
Folgerichtig hat das OLG dem Kindeswillen auch Vorrang gegenüber anderen
Kriterien, wie der Geschwisterbindung zur ausschließlich beim Kindesvater
lebenden älteren Schwester beigemessen.
Das Abstellen auf den Kindeswillen kann auch problematisch sein, führt
es für die Eltern zu großen Unwägbarkeiten in der Prognose
eines gerichtlichen Verfahrens. Die Eltern messen dem gegenüber ihnen
geäußerten Willen eines Kindes große Bedeutung bei, verkennen
dabei aber auch, dass die Äußerung dem Elternteil gegenüber
nicht identisch sein muss mit der Äußerung gegenüber dem anderen
Elternteil oder dritten Personen. Das ist für Eltern in Konfliktsituationen
schwer vorstellbar, siehe die stereotype Aussage, die jeder Rechtsanwältin
und jedem Rechtsanwalt in der Praxis bekannt ist: "Mein Kind lügt
nicht". Das Erkennen, dass der Loyalitätskonflikt des Kindes zu
solchen unterschiedlichen Aussagen führt, setzt so viel Fähigkeit
zur Perspektivübernahme voraus, die in der Konfliktsituation nicht jedem
gegeben ist.
Des Weiteren führt diese große Bedeutung der Äußerung
des Kindes natürlich zu einer großen Macht des Kindes, die auf
der einen Seite zu das Kindeswohl belastenden Manipulationsversuchen der Eltern
führen kann, auf der anderen Seite zu einer Verschärfung des Loyalitätskonflikt
des Kindes, weil ihm sehr wohl bewusst ist, dass seine Äußerung
zu einer Enttäuschung mindestens eines Elternteiles führt. Das muss
aber unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Professionalität
der entscheidenden Personen das Erkennen von Manipulationen und die Minimierung
von Belastungen verlangt, hingenommen werden. Hier ist es Aufgabe der Verfahrensbevollmächtigten,
die Eltern für dieses Problem der Kinder zu sensibilisieren und sehr
offen von ihnen zu verlangen, dass Kind nicht mit seiner Aussage vor Gericht
zu konfrontieren.