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Verwandtenstellung der Großeltern bei Auswahl des Vormunds
für ein minderjähriges Kind
(BVerfG v. 18.12.2008 - 1 BvR 2604/06)


von Rechtsanwältin Almuth Zempel

Einleitung


In einem Beschluss vom 18.12.2008, 1 BvR 2604/06, FamRZ 2009, 291 hat sich das Bundesverfassungsgericht - neben einer erneuten Betonung der Bedeutung der Rüge verfahrensrechtlicher Mängel im fachgerichtlichen Verfahren und ihrer Folgen im Verfahren der Verfassungsbeschwerde - grundsätzlich mit der Bedeutung familiärer Bindungen bei einer Entscheidung über die Auswahl von Pflegern oder Vormündern durch die Fachgerichte beschäftigt. Es hat einen grundsätzlichen Vorrang von Familienangehörigen, konkret betroffen waren die Großeltern, vor familienfremden Pflegepersonen bestätigt. Im entschiedenen Fall war einer Mutter das Sorgerecht für ein noch kleines Kind bislang nur vorläufig entzogen worden und auf das Jugendamt als Vormund übertragen worden, welches das Kind in einer Pflegefamilie unterbrachte. Einige Zeit später stellten die Großeltern den Antrag, die Pflegschaft für das Kind zu erhalten, nachdem im vorhinein Anträge auf Übertragung der Vormundschaft und Herausgabe des Kindes zur Pflege abschlägig beschieden worden waren. Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht wiesen die Anträge der Großeltern ab.

1. Auswahl von Pflegern und Vormündern


Gemäß §1697 kann das Familiengericht, wenn aufgrund einer von ihm getroffenen Maßnahme eine Vormundschaft oder Pflegschaft anzuordnen ist, auch diese Anordnung treffen und den Vormund oder Pfleger auswählen. Diese konkrete Befugnis des Familiengerichtes, auch die Anordnungen hinsichtlich der Auswahl des Vormundes vorzunehmen, führt zu einer Doppelzuständigkeit hinsichtlich der Vormundschaft. Denn grundsätzlich ist das Vormundschaftsgericht zuständig, gemäß § 1774 eine Vormundschaft anzuordnen und gemäß § 1779 den Vormund auszuwählen.
Letztendlich bedingt die Zuständigkeit des Familiengerichtes eine beschleunigte und sachnähere Entscheidung auch über die Anordnung der Vormundschaft und Auswahl des Vormundes. In allen Fällen, in denen in das Familiengericht den Eltern oder einem Elternteil das Recht der elterlichen Sorge entzieht und kein anderweitiger Elternteil mit Sorgerecht zu Verfügung steht, bedarf es einer sofortigen Entscheidung über die Anordnung der Vormundschaft und auch einer sofortigen Bestellung eines Vormundes, damit das Kind nicht ohne gesetzliche Vertretung verbleibt. In der Praxis sind die „Reibungsverluste“ durch die getrennte Zuständigkeit von Familiengericht und Vormundschaftsgericht oft enorm. Durch die Kenntnis der Sachverhalte des Sorgerechtsverfahren wird das Familiengericht darüber hinaus bereits in vielen Fällen einen Einblick auch in die weitere familiärer Situation des Kindes und Kenntnis von geeigneten Personen für die Übernahme der Vormundschaft erhalten haben. Dieses Nebeneinander von Familiengericht und Vormundschaftsgericht wird sich zum 1.9.2009 durch das FamFG ändern.
Bei der Auswahl des Vormundes gilt zunächst der Grundsatz des § 1697a, die Entscheidung des Familiengerichtes hat sich am Kindeswohl zu orientieren. Des weiteren hat auch das Familiengericht die Grundsätze aus § 1779 zu beachten. Es soll als Vormund eine Person ausgewählt werden, die nach ihren persönlichen Verhältnissen und ihrer Vermögenslage sowie nach den sonstigen Umständen zur Führung der Vormundschaft geeignet ist. Bei der Auswahl unter mehreren geeigneten Personen sind der mutmaßliche Wille der Eltern, die persönlichen Bindungen des Mündels, die Verwandtschaft oder Schwägerschaft mit dem Mündel sowie das religiöse Bekenntnis des Mündels zu berücksichtigen.

2. Verfassungsrechtliche Grundsätze


Art. 6 I GG verpflichtet den Staat, die aus Eltern und Kindern bestehende Familiengemeinschaft sowohl im immateriell-persönlichen wie auch im materiell-wirtschaftlichen Bereich als eigenständig und selbstverantwortlich zu respektieren. (BVerfGE 10, 59; 28, 104). Außerdem folgt aus Art. 6 Abs. 2 GG ein Vorrang der Eltern bei der Verantwortung für das des Schutzes und der Hilfe bedürftige Kind. Diese Verfassungsgrundsätze gebieten nach Bundesverfassungsgericht eine bevorzugte Berücksichtigung der Familienangehörigen bei der Auswahl von Pflegern und Vormündern, sofern keine Interessenkollision besteht oder der Zweck der Fürsorgemaßnahme aus anderen Gründen die Bestellung eines Dritten verlangt. Insoweit ist der Schutz des Art. 6 nicht nur auf die Eltern beschränkt, sondern entfaltet Wirkung für die gesamte Familie.
Darüber hinaus wendet das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auch Art 8 EMRK an. Nach der Rechtsprechung des EuGHMR umfasst das geschützte Familienleben in soweit zumindest auch nahe Verwandte, zum Beispiel Eltern und Enkel, da sie innerhalb der Familie eine beachtliche Rolle spielen können. Die Achtung des so verstandenen Familienlebens begründet für den Staat die Verpflichtung, in einer Weise zu handeln, die die normale Entwicklung dieser Beziehung ermöglicht (EuGHMR NJW 1979, 2449).
Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge, die durch Zustimmung durch Bundesgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG in nationales Recht transformiert worden sind. Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Insofern haben die deutschen Gerichte auch die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten. Zwar kann nicht direkt vor dem Bundesverfassungsgericht die Verletzung eines in der EMRK enthaltenen Menschenrechtes mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden, als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen sind sie aber zu beachten.
Eine verfassungskonforme Auslegung von § 1779 gebietet es, im Rahmen der Bestellung eines Vormundes den Willen der Eltern ebenso zu beachten wie die nahe Verwandtenstellung der Großeltern. Es gilt als eine Selbstverständlichkeit, dass bei intakten Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen die Kinder dann, wenn ihre Eltern aus welchen Gründen auch immer als Sorgeberechtigte ausscheiden, von Großeltern oder anderen nahen Verwandten aufgenommen und großgezogen werden, sofern deren Verhältnisse dies ermöglichen. Sind diese Verwandten zur Führung der Vormundschaft geeignet, so dürfen sie nicht etwa deswegen übergangen werden, weil ein außenstehender Dritter noch besser dazu geeignet wäre, beispielsweise im Hinblick auf eine optimale geistige Forderung des Kindes.
Ein entscheidender Grund für die Aufhebung des oberlandesgerichtlichen Beschlusses lag allerdings darin, dass das Oberlandesgericht verkannt hat, dass Grundlage der Vormundbestellung im konkreten Fall nur eine vorläufige Sorgerechtentziehung war, womit die erstmalige endgültige Bestellung eines Vormundes noch zu erfolgen hatte. In deren Rahmen ist gerade die Verwandtenstellung der Großeltern zu beachten.
Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht der Begründung des Oberlandesgerichts, der Altersunterschied zwischen den Großeltern und den Pflegeeltern sei ein Argument für den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie, eine Absage erteilt.

3. Rechtliche Würdigung


Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung erneut die Auswirkungen des Art. 6 GG auf Entscheidungen der Familiengerichte und der Beschwerdegerichte klargestellt. Auf der Entscheidung ist eine klare Ableitung einer Schutzwirkung für Großeltern aus Art. 6 GG zu entnehmen. Zur Einbeziehung der Großeltern in den Schutzbereich eines verfassungsrechtlichen Schutzes des Familienlebens wird erweiternd Art. 8 EMRK herangezogen. Beide Grundsätze führen dazu, dass Familiengerichte und Vormundschaftsgerichte in Zukunft stärker den Vorrang von Familienangehörigen gegenüber sonstigen Pflegepersonen, auch professioneller Art, bei der Auswahl von Vormündern und Pflegern beachten müssen. Insbesondere wird auch Argumenten, die Umstände des Einzelfalles nicht hinreichend berücksichtigen und lediglich angeblich allgemeinverbindliche Aussagen behaupten, als Begründung für eine Entscheidung die Berechtigung abgesprochen.
Allerdings ist hier die Begründung des Oberlandesgerichts, die Großeltern im Alter von 50 und 51 Jahren seien zur Erziehung eines Kleinkindes nicht geeignet, ohnehin angesichts der Lebensrealitäten von immer mehr Eltern, die sich erst spät für Kinder entscheiden und der tatsächlichen Betreuung von Tausenden von Kindern durch ihre Großeltern wenig plausibel.
Ob die Grundsätze des Bundesverfassungsgericht sich auch auf einen Fall übertragen lassen, in dem tatsächlich ein Wechsel von einem professionellen Vormund und der Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie zu einer Unterbringung des Kindes bei den Großeltern, stattfindet, erscheint allerdings fraglich. Insoweit hatte das Bundesverfassungsgericht eindeutig darauf abgestellt, das im zu entscheidenden Fall noch keine endgültige Bestellung eines Vormundes erfolgt war. Jedenfalls bei der erstmaligen Bestellung eines Vormundes, selbst wenn das Kind bereits seit geraumer Zeit in einer Pflegefamilie untergebracht ist, haben Familienangehörige einen Vorrang, wenn in ihrer Person keine Gründe dagegen sprechen. Als Grund zählt insbesondere nicht, dass möglicherweise eine fremde Pflegeperson noch besser zur Betreuung eines Kindes geeignet wäre.

4. Auswirkungen für die Praxis


Sowohl in Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls, die mit einer vorläufigen oder endgültigen Sorgerechterziehung für einen Elternteil enden, sollten Familienangehörige, die die Vormundschaft für das Kind übernehmen wollen, frühzeitig im Rahmen der Verfahrens einen entsprechenden Antrag auf Übertragung der Vormundschaft stellen. Sowohl das Familiengericht als auch das Vormundschaftsgericht sind verpflichtet, Familienangehörige vorrangig als Vormund zu bestellen und sich dazu auch das entsprechende Wissen über die Personen zugänglich zu machen.
Bei einem nachträglichen Wechsel in der Vormundschaft, verbunden mit einem Aufenthaltswechsel des Kindes ist zu berücksichtigen, dass die Familienbande in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes einen enormen Stellenwert haben, der bei gleicher Eignung auch den Grundsatz der Kontinuität durchbrechen kann.

Der vollständige Aufsatz ist veröffentlicht in juris-AnwZert 6/2009 Anm. 1



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Almuth Zempel


Rechtsanwältin
Fachanwältin für Familienrecht
Dipl.-Rechtspflegerin (FH)

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